Das weiße Kamel
by Elçin
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Das Leben und Treiben in einem Altstadtviertel Bakus, der Hauptstadt Aserbaidschans, beschwört der sich an seine Kindheit erinnernde Erzähler als verlorenes Paradies. Diese abgeschiedene Welt der kleinen Leute bietet wunderlichen Käuzen und gestrandeten Weisen einen idealen Nahrboden. Für den kleinen Alekber, der beim Anblick eines amerIkanischen Füllfederhalters, diesem Wunderding von einem anderen Stern, beschließt, später einmal Bücher zu schreiben, ist dies das stimulierende Milieu seiner unstillbaren Neugierde. Aus diesem Blickwinkel heraus eröffnet sich dem Leser ein geheimnisvoller Mikrokosmos zwischen Spannungspolen des politischen Verrats und verbotener Liebe.
Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges setzt die tragische Verwaisung des Viertels ein, begleitet von den in immer kürzeren Zeitabständen eintreffenden Todesnachrichten der eingezogenen Väter und Söhne. Im Mittelpunkt des Geschehens agiert die lebenserfahrene Emine Hala, deren fünf Sohne das Haus verlassen mußten. Diese alleinstehende Frau steht in einem mehr vom Koran als von marxistischer Ideologie geprägten Umfeld für Zivilcourage und Lebensklugheit.
Der Roman "Das weiße Kamel" entfaltet vor dem düsteren Hintergrund der vierziger Jahre eine märchenhafte Gegenwelt, die sich aus orientalischen Erzählmotiven zusammensetzt. Der in den Tag hineinlebende Außenseiter des Viertels versammelt allabendlich die Kinder aus der Nachbarschaft unterm Maulbeerbaum und erzählt die verheißungsvollen Geschichten vom weißen Kamel, das in der islamischen Mythologie als Symbol für eine bessere Zukunft gilt. Elçins mit souveräner Meisterschaft konstruierter Roman verliert, trotz der vielen erzählerischen Querverweise, niemals den Faden einer vorurteilsfreien Bestandsaufnahme jüngerer sowjetischer Geschichte aus den Augen, bis zu dem sich in den achtziger Jahren anbahnenden politischen Umbruch. Dabei verzichtet er konsequent auf schwarz-weiß Rhetorik. Im Gegenteil, auch die lokalen Amtsinhaber und Parteigänger des Regimes werden differenziert dargestellt.
In der Verbindung von episch-orientalischer mit moderner kollagenhaft-assoziativer Erzählstrategie erreicht diese nuancenreiche Chronik eines Bakuer Altstadtviertels höchste poetische Ausdruckskraft Damit weist Elçin der sowjetischen Literatur einen Weg, der über die Benennung politischer Mißstände hinausführt zu den existenziellen Fragen menschlichen Lebens.